Sich selbst ein guter Freund sein

von | 05.12.2021 | Selbstmitgefühl

Schwierigkeiten, Misserfolge, Verluste und Rückschläge gehören zum Leben dazu. Und wenn uns ein geliebter Mensch von seinen schwierigen Momenten des Lebens oder seinen Selbstzweifeln erzählt, sind wir meist empathisch, versuchen ihm Mut zu machen und glauben daran, dass es besser wird. Doch was, wenn wir selbst schwierige Momente erleben?
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Gedankenexperiment

Erinnere dich an eine Situation, als es einem Freund oder einer anderen nahestehenden Person, nicht gut ging. Wie bist du mit ihm umgegangen, in dieser Situation? Wie hast du mit ihm geredet? Was hast du gesagt und in welchem Ton? Was hast du gemacht und über dich, die Situation und die Welt gedacht?

Jetzt erinnere dich an eine Situation, in der es dir nicht gut ging. Wie bist du mit dir selber umgegangen? Wie hast du innerlich mit dir geredet? Was hast du gesagt und in welchem Ton? Was hast du gemacht und über dich, die Situation und die Welt gedacht?

Was fällt dir auf, wenn du beide Situationen vergleichst? Welchen Unterschied gibt es in deinem Verhalten und deinen Gedanken? Und welche Gemeinsamkeiten?

Ein Großteil der Menschen, ca. 80%, geht mit sich selbst nicht so mitfühlend und freundlich um, wie mit anderen. Uns selbst gegenüber sind wir oft eher verurteilend, kritisierend, antreibend und wenig mitfühlend. Dabei hat die Wissenschaft inzwischen vielfach bestätigt, dass es besser für uns und unser Wohlbefinden ist, wenn wir uns selbst ein guter Freund sind.

Der innere Kritiker als Antreiber

Viele Menschen kennen ihren inneren Kritiker sehr gut, als verurteilende, richtende, unfreundliche innere Stimme. Er treibt uns an, sorgt dafür, dass wir uns verbessern und keine Fehler machen. Doch ist dem wirklich so? Oft haben Menschen Angst davor, dass sie sich ohne Selbstkritik nicht mehr motivieren können, schlechte Leistungen erbringen und in Passivität verfallen. Doch das ist ein Irrglaube. Selbstkritik sorgt für negative Emotionen, führt zu Stress und senkt damit die Leistungsfähigkeit und Motivation1. Langfristig geht Selbstkritik mit Depressionen und Unzufriedenheit einher. Selbstmitgefühl hingegen ermöglicht Aktivität, Wachstum und Veränderung. Wenn wir uns selbst mitfühlend begegnen, müssen wir keine Angst vor Fehlern haben und können aktiv werden. Selbstmitfühlende Menschen sind ausdauernder, zeigen mehr Durchhaltevermögen und nutzen Misserfolge als eine Möglichkeit dazuzulernen. Selbstmitgefühl hilft also viel mehr dabei, unsere Ziele zu erreichen, als Selbstkritik.

Selbstwertgefühl vs. Selbstmitgefühl

Anstatt einen selbstmitfühlenden Umgang zu fördern, wird in unserer Gesellschaft ein hoher Selbstwert mehr betont. Es existieren unzählige Bücher, Programme und Kurse, die versprechen das eigene Selbstwertgefühl zu verbessern. Denn immer noch gehen viele Menschen intuitiv davon aus, dass sein hoher Selbstwert viele ihrer Probleme lösen wird und dafür sorgt, dass es ihnen besser geht. In den 80er Jahren wurde in den USA ein großes Programm zur Selbstwertförderung an Schulen durchgeführt. Die Idee war, dass ein hohes Selbstwertgefühl der Schüler die Probleme mit Mobbing, Kriminalität, Schwangerschaften im Teenageralter, Drogenmissbrauch und schlechten Leistungen beheben müsste. Trotz viel Energie und Budget, die in dieses Projekt flossen, zeigte das Projekt keine Wirkung. Rückblickend kamen Wissenschaftler zu dem Schluss, dass ein hoher Selbstwert nicht zu psychischer Gesundheit führt, sondern eher die Folge dessen zu sein scheint. Inzwischen weiß man sogar, dass ein hoher Selbstwert auch viele unangenehme Folgen mit sich bringt. Selbstwert ist erfolgs- und leistungsabhängig und damit potentiell immer in Gefahr. Denn jeder Misserfolg wirkt zerstörerisch und der eigene Selbstwert wird zu schützen versucht. Deshalb geht ein hoher Selbstwert mit Aggression, Selbsterhöhung, Erniedrigung von anderen und Narzissmus einher2. Natürlich bringt ein hohes Selbstwertgefühl auch positive Folgen mit sich, wie Zufriedenheit, Optimismus und positive Emotionalität. Diese Vorteile genießen jedoch auch selbstmitfühlende Menschen, aber ohne die Nachteile eines hohen Selbstwerts3. Selbstmitgefühl ist also die gesunde Alternative zu einem hohen Selbstwertgefühl.

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstmitgefühl bezeichnet eine innere Haltung, die wertschätzend und liebevoll das eigene Selbst betrachtet. Mit sich selbst mitfühlend zu sein, bedeutet sich auch in schwierigen Situationen, bei Misserfolgen oder Herausforderungen freundlich und nachsichtig zu behandeln. Selbstmitgefühl beinhaltet drei Komponenten:

Was ist Selbstmitgefühl?

Selbstbezogene Freundlichkeit

Selbstbezogene Freundlichkeit wird charakterisiert durch einen liebevollen, mitfühlenden und akzeptierenden Umgang mit sich selbst. Man begegnet sich selbst so, wie man auch einem guten Freund begegnen würde. Selbstbezogene Freundlichkeit ist das Pendant zur Selbstverurteilung. Anstatt sich zu kritisieren und zu verurteilen, ist man verständnisvoll und gütig.

Gemeinsames Menschsein

Gemeinsames Menschsein meint ein Gefühl der Verbundenheit mit anderen Menschen, die ebenfalls Herausforderungen zu meistern haben und Schwierigkeiten erleben. Leid wird als Teil der menschlichen Existenz verstanden. Sich nicht als anders, schlechter dran und isoliert in seinem Unglück zu erleben, macht den Unterschied zu Selbstmitleid aus.

Achtsames Gewahrsein

Achtsames Gewahrsein heißt, aufmerksam mit den eigenen Emotionen und Bedürfnissen umzugehen und diese nicht ändern oder verdrängen zu wollen. Es bedeutet jedoch nicht, sich mit seinen Empfindungen zu stark zu identifizieren, sondern zu erkennen, dass Gefühle nicht die Wahrheit und vergänglich sind.

Die Vorzüge des Selbstmitgefühls

Das Konzept des Selbstmitgefühls ist schon lange aus der östlichen Philosophie und dem Buddhismus bekannt, erfährt aber erst seit einigen Jahren Aufmerksamkeit in der Wissenschaft. Kristin Neff könnte man als die Mutter des Selbstmitgefühls bezeichnen. Mit ihrer Forschung hat sie das Selbstmitgefühl in die Psychologie gebracht und zu einem ernst zu nehmenden Thema gemacht.

Viele Studien belegen, dass Selbstmitgefühl das Wohlbefinden und die Zufriedenheit fördert, zu einer optimistischen und offenen Haltung führt und im Zusammenhang mit einem stabilen, angemessenen Selbstwert steht. Selbstmitfühlende Menschen führen glücklichere Beziehungen, können besser mit Stress umgehen. Negative Gefühle, häufiges Grübeln, Angstgefühle und depressive Symptome werden durch Selbstmitgefühl verringert. Menschen, die sich selbst ein guter Freund sind, geht es also in vielen Belangen besser und sie führen ein glücklicheres Leben – auch wenn ihnen Herausforderungen, Misserfolge oder Schicksalsschläge begegnen.

Selbstmitfühlender werden

Die vielen Vorteile von Selbstmitgefühl kann man in sein Leben holen, in dem man sein Selbstmitgefühl trainiert. Die Fähigkeit selbstmitfühlend zu sein, ist durch verschiedene Übungen steigerbar, von denen auch schon einige wissenschaftlich validiert sind. Außerdem gibt es inzwischen Kursformate, die darauf abzielen einen selbstmitfühlenden Umgang zu etablieren. In Deutschland sind dies bspw. Mindful Self Compassion Kurse (MSC), die von Kristin Neff und Christopher Germer entwickelt wurden.

Ein erster wichtiger Schritt zu mehr Selbstmitgefühl ist zu erkennen, wie man momentan mit sich umgeht. Gehört man zu den ca. 80% der Menschen, die mit sich kritischer und härter umgehen, als mit anderen, können Reflektionen und Übungen unterstützend wirken. Sie helfen einem mit seinem inneren Freund in Kontakt zu kommen und Vorurteile oder Ängste vor Selbstmitgefühl abzubauen. Es kann auch hilfreich sein, zu ergründen, welcher Aspekt von Selbstmitgefühl schon gut ausgeprägt ist und welcher noch gefördert werden könnte. Vielleicht ist man bereits gut im Wahrnehmen und Akzeptieren seiner Emotionen, versinkt dann aber in Selbstmitleid, weil man das Gefühl hat, der einzige Mensch auf der Welt zu sein, dem es schlecht geht. Sich im Alltag immer wieder in Erinnerung zu rufen, dass auch andere Menschen Schlimmes erleben und Leid zum Leben dazu gehört, kann dann eine geeignete Strategie sein. Langfristig kann man Selbstmitgefühls-Gewohnheiten etablieren, wie z.B. ein Selbstmitgefühlsmantra, die im Alltag jederzeit genutzt werden können. Mit der Absicht und dem Willen den Umgang mit sich zu verändern, kann jeder selbstmitfühlender werden. Denn ein liebevoller, fürsorglicher Umgang ist uns allen vertraut. Wir müssen nur lernen diesen auch auf uns selbst anzuwenden.

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Reflexion

Mache dir noch einmal die drei Facetten von Selbstmitgefühl bewusst.

Wie freundlich gehst du mit dir, in schwierigen Momenten oder wenn es dir schlecht geht, um? Wofür kritisierst und verurteilst du dich?

Wie sehr fühlst du dich mit anderen verbunden und bist dir bewusst, dass du nicht alleine bist, mit deinem Leid? Wann fühlst du dich isoliert oder bemitleidest dich?

Wie achtsam gehst du mit deinen Empfindungen um und lässt auch negative Emotionen da sein? Wann lässt du dich von deinen Emotionen übermannen, wann drückst du sie weg?

Selbstmitgefühl zu entwickeln, geht nicht von einem Tag auf den anderen. Es ist vielmehr ein Prozess, in dem man sich selber besser kennenlernt, in Kontakt mit seinen inneren Stimmen kommt und neue Verhaltensweisen im Innen und Außen übt und etabliert. Sich auf den Weg zu machen, ist jedoch äußerst lohnenswert und wird das eigene Leben in vielen Bereichen zum Besseren verändern.

Ich wünsche dir mehr Selbstmitgefühl!
Deine Alexandra

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Übungen passend zum Thema

Quellen

  1. Neff, K. (2003). Self-compassion: An alternative conceptualization of a healthy attitude toward oneself. Self and Identity, 2(2), 85-101.
  2. Baumeister, R. F., Smart, L., & Boden, J. M. (1996). Relation of threatened egotism to violence and aggression: the dark side of high self-esteem. Psychological Review, 103(1), 5.
  3. Neff, K. D., & Vonk, R. (2009). Self‐compassion versus global self‐esteem: Two different ways of relating to oneself. Journal of Personality, 77(1), 23-50.

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Alexandra Loeffner - Positive Psychologie

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