Während Resilienz in der heutigen Zeit zu einer gefragten Fähigkeit geworden ist und die Erwartung besteht, dass Menschen auf die Vielzahl aktueller Belastungen resilient reagieren sollen, wird Resilienz dabei oftmals mit posttraumatischem Wachstum verwechselt. Doch resilient zu sein und an Krisen zu wachsen, sind zwei unterschiedliche Reaktionen, die nicht gleichzeitig auftreten.1 Dass Menschen eine Krise ohne große Belastung bewältigen und diese gleichzeitig als Entwicklungschance nutzen, ist also nahezu unmöglich. Und auch die Möglichkeiten, Resilienz zu stärken oder posttraumatisches Wachstum zu unterstützen, unterscheiden sich.
Was ist posttraumatisches Wachstum?
Posttraumatisches Wachstum bezeichnet positive Veränderungen bzw. die Erfahrung positiver Entwicklungen, die sich aus der Bewältigung von schwierigen Lebenskrisen oder hohen Belastungssituationen ergeben.2 Dabei äußert sich posttraumatisches Wachstum in vielfältiger Weise, z.B. durch eine gesteigerte Wertschätzung des Lebens, ein neues Verständnis für die eigenen Stärken, veränderte Prioritäten oder bedeutungsvollere Beziehungen.
Was uns nicht umbringt, macht uns stärker.
Friedrich Nietzsche
Die Krisen bzw. Belastungssituationen, die Wachstum ermöglichen, können ganz unterschiedlicher Natur sein, schwere Krankheiten, der Verlust von wichtigen Menschen oder wichtigen Aufgaben, das Erleben von Gewalt, einschneidende Lebensveränderungen oder auch globale Krisen wie Krieg oder Naturkatastrophen. In der Psychologie spricht man von einem traumatischen Ereignis. Was solchen Ereignissen gemeinsam ist, ist die Erschütterung des Weltbildes oder der Grundannahmen eines Menschen.3 Wie ein inneres Erdbeben werden Annahmen über sich, das eigene Leben oder die Welt erschüttert, durchgerüttelt und in Frage gestellt. Plötzlich ist das eigene Zuhause nicht mehr sicher, auf den eigenen Körper kein Verlass mehr, die wichtige Beziehung doch nicht mehr so stabil. Die Welt wird nicht mehr als gerecht empfunden, die Geschehnisse als unkontrollierbar oder der eigene Wert in Frage gestellt.
Warum Resilienz kein posttraumatisches Wachstum ist
Genau diese Erschütterung macht den Unterschied zwischen Resilienz und posttraumatischem Wachstum aus. Resilienz bedeutet, Krisen ohne größere Belastung zu bewältigen. Wenn Menschen resilient reagieren, werden keine Glaubenssysteme erschüttert und eine Krise löst keinen Veränderungsprozess aus. Für posttraumatisches Wachstum braucht es jedoch genau diese heftige Erschütterung und den darauffolgenden Absturz in ein Loch, in dem die Welt nicht mehr so ist, wie sie vorher war. Ein Loch, aus dem man sich hervor kämpfen muss, indem man das Geschehene integriert und Veränderungen im eigenen Leben oder der eigenen Persönlichkeit verarbeitet und annimmt.
So verändert posttraumatisches Wachstum das Leben
Wachstum wird durch Veränderungen im Leben, im Denken und in der Persönlichkeit sichtbar. Posttraumatisches Wachstum impliziert also, dass auf eine Krise Veränderungen folgen – in diesem Fall positive Veränderungen. Dabei geht es nicht darum, was ein paar Tage oder Wochen später anders ist, sondern um die langfristigen Effekte. Im Durchschnitt zeigt sich posttraumatisches Wachstum nach ca. 1 – 1,5 Jahren. Diese Zeit braucht es, um das Tal der Tränen zu bewältigen und die Krise zu verarbeiten.
Gedankenexperiment
Erinnere dich an Krisen in deinem Leben, die dich wirklich getroffen haben, an denen du schlussendlich jedoch gewachsen bist. Was hat sich anschließend in deinem Leben, deinem Denken, deiner Persönlichkeit verändert?
Du kannst auch an Familie, Freunde oder Biografien von bekannten Personen denken. Welche Veränderungen nach einschneidenden Lebenserfahrungen konntest du bei ihnen beobachten?
Menschen, die an Krisen gewachsen sind, berichten von4
- bedeutungsvolleren und tieferen Beziehungen,
- dem Ausbau persönlicher Stärken,
- veränderten Prioritäten und neue Möglichkeiten im Leben,
- einer stärkeren Wertschätzung gegenüber dem Leben und alltäglichen Erfahrungen,
- sowie einem veränderten Sinn für Spiritualität.
Beziehungen zu Anderen
Auf Ebene der Beziehungen kann sich Posttraumatisches Wachstum z.B. durch ein vertieftes Gefühl, dass man sich auf andere verlassen kann, zeigen. Menschen fühlen sich Anderen näher und sind bereit, mehr in ihre Beziehungen zu investieren. Sie sind bereit, offen und ehrlich ihre Gefühle auszudrücken und haben erkannt, wie wundervoll andere Menschen sind. Außerdem empfinden sie mehr Mitgefühl für Andere und können mehr und mehr akzeptieren, dass sie Andere brauchen.
Persönliche Stärken
In Bezug auf die eigenen Stärken zeigt sich, dass Menschen durch Krisen entdecken, dass sie stärker sind, als sie dachten. Sie haben mehr Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten und wissen, dass sie in der Lage sind, mit Schwierigkeiten umzugehen und Herausforderungen zu bewältigen. Studien zeigen sogar, dass bewältigte Krisen zu einer stärken Ausprägung der Charakterstärken führen.5 Nach Krisen berichten Menschen auch oft von einem größeren Selbstvertrauen und können gleichzeitig die Dinge mehr so akzeptieren, wie sie sind und passieren.
Wertschätzung für das Leben
Die Bewältigung einer Krise kann bei Menschen die Wertschätzung für das Leben und die alltäglichen Dinge verstärken. Menschen sind dankbarer, für alles, was sie haben und erleben dürfen und genießen jeden Tag, der ihnen geschenkt wird. Eine Krise kann dafür sorgen, dass der Wert des eigenen Lebens neu erkannt und weniger als selbstverständlich erlebt wird.
Spirituelle Veränderungen
Ich wünsche dir die Kraft, an Krisen zu wachsen!
Deine Alexandra
Weiterführende Übungen
Quellen:
- Levine, S. Z., Laufer, A., Stein, E., Hamama‐Raz, Y., & Solomon, Z. (2009). Examining the relationship between resilience and posttraumatic growth. Journal of Traumatic Stress: Official Publication of the International Society for Traumatic Stress Studies, 22(4), 282-286.
- Tedeschi, R. G., & Calhoun, L. G. (2004). Posttraumatic growth: Conceptual foundations and empirical evidence. Psychological Inquiry, 15(1), 1-18.
- Cann, A., Calhoun, L. G., Tedeschi, R. G., Kilmer, R. P., Gil-Rivas, V., Vishnevsky, T., & Danhauer, S. C. (2010). The core beliefs inventory: A brief measure of disruption in the assumptive world. Anxiety, Stress, and Coping, 23, 19–34.
- Tedeschi, R. G., & Calhoun, L. G. (1996). The posttraumatic growth inventory: Measuring the positive legacy of trauma. Journal of Traumatic Stress, 3, 455–471.
- Peterson, C., Park, N., Pole, N., D’Andrea, W., & Seligman, M. E. (2008). Strengths of character and posttraumatic growth. Journal of Traumatic Stress: Official Publication of the International Society for Traumatic Stress Studies, 21(2), 214-217.
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